Wir werden von Generation zu Generation immer älter.
Setzt sich dieser Anstieg unserer Lebenserwartung weiter fort, dann wird etwa die Hälfte der heute Geborenen 100 Jahre alt.
„Unsere Lebensspanne hat sich in den vergangenen hundert Jahren beinahe verdoppelt, an der Gesundheitsspanne hat sich nichts verändert – allen medizinischen Fortschritten zum Trotz“, sagt Dr. med. Michael Spitzbart, ein renommierter Facharzt für präventive Medizin.
Werden wir also immer älter, aber im Alter nicht wirklich gesünder?
Hält uns die moderne Medizin dank Früherkennung, medikamentöser, apparativer und chirurgischer Unterstützung immer länger am Leben, ohne dass unsere Lebensqualität wirklich steigt?
Fakt ist: Altern geht mit der Abnahme vieler körperlicher Funktionen und dem Abbau einiger Strukturen einher – was von nur Wenigen als angenehm empfunden wird. Das lässt sich verzögern, aber nicht aufhalten.
Die Ayurvedamedizin hat vor über 2000 Jahren eine Paradoxie des Lebens beschrieben: obwohl unser Körper degeneriert, kann unser Geist reifen – und damit das Altern auch körperlich verlangsamen und entstören.
Diese ersehnte Form des Alterns ist aber keine Selbstverständlichkeit. Damit sie gelingt, müssen einige Bedingungen gegeben sein.
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Körperliche Merkmale des Alterns
In der gerontologischen Fachwelt werden zumeist vier Lebensphasen unterschieden: Phase 1 steht für die Kindheit und das Jugendalter, Phase 2 umfasst etwa 40 Jahre als Erwachsene, das dritte Alter beginnt mit 60 Jahren und das vierte mit etwa 80 bis zum Tod.
In den ersten vierzig Lebensjahren machen sich störende und belastende Altersmerkmale selten bemerkbar. Zwischen 40 und 60 beginnt eine hormonell bedeutsame Veränderung, in der wir die Weichen für unser Alter stellen. Das dritte Alter geht dann definitiv mit Abbauprozessen einher und das vierte ist zumeist von multimorbiden Realitäten geprägt.
Wenn wir zehn wichtige Organsysteme betrachten, zeigen sich folgende Merkmale mit zunehmendem Alter:
- Haut: Abnahme der Elastizität und Festigkeit, Zunahme von Falten und Flecken
- Muskulatur: Abbau von Muskelmasse, Zunahme von Binde- und Fettgewebe
- Knochen: Verringerung von Knochendichte, Knorpel und Elastizität
- Herz-Kreislauf: Schlechtere Durchblutung, höherer Blutdruck, geringere Anpassungsfähigkeit (HRV), zunehmende Herzinsuffizienz
- Atemwege: Geringere Elastizität und Sauerstoffaufnahmekapazität
- Energiestoffwechsel: Verringerter Grundumsatz und Abnahme der Glucosetoleranz
- Immunsystem: Schwächere Infektabwehr, verlangsamte Wundheilung, Zunahme von Immunfehlern
- Hormonsystem: Abnahme aller verjüngenden Hormone (STH, DHEA, Melatonin u.a.), Zunahme des Stresshormons Cortisol
- Sinnesorgane: Abnahme aller Sinnenfunktionen
- Nervensystem: Abbau von Neuroplastizität und kognitiver Funktionen
Wie geht es Ihnen beim Lesen der Worte Abnahme, Abbau, Verringerung, schwächer, schlechter, verlangsamt? Das klingt leider nach einem wenig attraktiven, eher defizitären körperlichen Ausblick auf das hohe Alter.
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Die ayurvedische Perspektive des Alterns
Ayurveda ist die älteste dokumentierte Lehre vom gesunden Altern.
Ayus bedeutet Langlebigkeit und Veda ist das Wissen darum, wie wir beschwerdearm, sinnerfüllt und glücklich ein hohes Alter erreichen können. Dieses Ziel ist das Herzstück ayurvedischer Lebenswissenschaft.
Die Kindheit wird vom Wachstum steuernden Kapha dominiert, das in der Pubertät in das hormonell aktive Pitta übergeht. Das Erwachsenenalter ist vom feurigen Pitta und seiner kraftvollen Umwandlung gesteuert und geht in den Wechseljahren in Vata über. Ab Mitte 50 oder Anfang 60 begleitet uns das Vata bis zum Lebensende und ist verantwortlich für die oben genannten degenerativen Prozesse, die vor allem auf immer mehr Trockenheit und Kälte zurückgehen.
Die 100 postulierten Lebensjahre werden in den klassischen Schriften in zehn Dekaden eingeteilt, zu jeder werden die zu erwartenden Verluste an körperlichen, sinnlichen und geistigen Fähigkeiten beschrieben.
Um Beschwerden im Alter vorzubeugen, müssen alle Qualitäten und Funktionen von Vata kontrolliert werden – je früher wir damit beginnen, desto besser. Hierzu stehen uns zahlreiche Möglichkeiten der Ernährung und Lebensführung zur Verfügung.
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Paradoxie des Lebens
Während unser Körper im Alter durch zunehmendes Vata schrittweise degeneriert, kann unser Geist eine entgegengesetzte Evolution durchlaufen.
Kapha, Pitta und Vata sind die drei Kräfte unseres Körpers, die unsere drei Hauptphasen des Lebens dominieren.
Im Geist werden mit Tamas, Rajas und Sattva drei Eigenschaften beschrieben, die in Abhängigkeit von unserem Denken, Fühlen und Verhalten individuell ausgeprägt sind.
Grundsätzlich sind wir in der frühen Kindheit von Tamas dominiert, unsere Wahrnehmung ist noch wenig ausgebildet und wir verstehen noch nicht viele Zusammenhänge. Die körperlich von Pitta dominierte Lebensphase geht meist mit dem leidenschaftlichen Rajas im Geist einher, das durch ein Schwarz-Weiß-Denken und die beiden Pole von Anhaftung und Abneigung geprägt ist. Je älter wir werden, desto mehr hinterfragen wir unser Leben und seine Sinnhaftigkeit. Jetzt ist die Zeit von Sattva gekommen, die uns Ruhe, Frieden, Harmonie und Gleichmut schenkt.
Ein ayurvedisch „gelungenes“ Leben geht also mit geistiger Entwicklung einher, die unser Verhalten stark beeinflusst. Unter dominierendem Sattva fällt es uns leichter, körperliches Altern zu akzeptieren und mit unseren Kräften hauszuhalten. Wir entwickeln eine soziale Kompetenz, die mit zunehmendem Alter das psychische Befinden verbessert und nachweislich Demenz vorbeugt.
Vata bleibt Vata, steigt aber milder an und belastet uns deutlich weniger.
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Alterung ganzheitlich verstehen und gestalten
Wir altern nicht nur körperlich, sondern auch psychisch, sozial und kulturell – mit großen Herausforderungen.
Psychisch fühlen wir uns häufig deutlich jünger als das Körperbild beim Blick in den Spiegel enthüllt. Unsere in jungen Jahren entwickelte Identität benötigt eine altersgerechte Anpassung, die deutlich langsamer erfolgt als wir körperlich altern.
Das soziale Altern ist vor allem durch den Verlust vertrauter Kontakte nach dem aktiven Arbeitsleben und später auch durch Todesfälle von wichtigen Lebensgefährten geprägt. Ohne neue Kontakte entsteht ein Gefühl der Vereinsamung und fehlender Anbindung.
Kulturell kommen Viele mit der rasanten Entwicklung nicht mehr mit. Ihre erlernten Normen gelten nicht mehr, die Technik verstehen sie nicht und die Bedürfnisse junger Menschen sind ihnen fremd.
Unser Leben bleibt also auch im zunehmenden Alter eine große Herausforderung. Lernen wir, mit Hilfe ayurvedischer Methoden das steigende Vata auszugleichen, Sattva im Geist zu stärken und damit eine neue altruistische Identität zu entwickeln, sozial verbunden und kulturell für die Entwicklung der Welt offen zu bleiben, sind wir dieser Herausforderung bestens gewachsen.
Was gibt es schöneres, als friedvoll und gelassen mit der Erfahrung eines langen Lebens von jüngeren Menschen respektiert und gebraucht zu werden? Das ist keine Illusion. Wir selbst entscheiden, ob es gelingt.
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