Neue Wege im Angstverständnis
„Wenn ich keine Angst mehr habe, kann ich mein Leben wieder selbst gestalten, mich um einen neuen Job kümmern und für einen neuen Partner öffnen“.
Diesen Satz hörte ich von einer vierzigjährigen Klientin Frau H. diese Woche, die meine Praxis mit der psychiatrischen Diagnose einer „generalisierten Angststörung“ und wiederkehrenden Panikattacken aufsuchte.
Sie wolle keine Psychopharmaka einnehmen, die ihr der Facharzt verschrieben hatte. Als Yogafan und Veganerin suche sie nach natürlichen Wegen, um ihre Ängste und damit verbundenen Beschwerden zu überwinden. Diese sind Schlafstörungen, Erschöpfung und Schwindel sowie zeitweiliges Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Erröten und Durchfall.
Auf meine Frage, was sie sich wünsche, erwiderte sie: „Angstfreiheit. Energie. Innere Ruhe. Und Selbstbewusstsein.“
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Emotionale Ziele versus Verhaltensziele
Die Wünsche meiner Klientin sind völlig normal und verständlich. Wir alle möchten glücklich sein und uns gut fühlen.
Das Problem dabei: wir haben keinen Ein-Aus-Schalter für Gedanken und Emotionen. Diese lassen sich nicht so leicht steuern.
Was wir hingegen steuern können, ist unser Verhalten. Was wir essen, wann wir schlafen, wen wir treffen, wo wir arbeiten, wie wir uns bewegen, was wir lesen, welche Filme wir schauen, wo wir uns weiterbilden u.v.m.
Gedanken und Gefühle sind das Ergebnis unserer Erfahrungen, die wir durch unser Verhalten gemacht haben. Sie entstehen im Geist, spielen sich dort ab und lösen sich dort auch wieder auf. Sie sind somit vergänglich.
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Ängste kontrollieren – eine Sackgasse
Unangenehme innere Erfahrungen versuchen wir schnellstmöglich loszuwerden oder wenigstens zu kontrollieren.
Frau H. ließ sich von ihrem Yogalehrer einige Entspannungsübungen zeigen, die sie täglich anwendet. Zudem erlernte sie Atemtechniken zur Kontrolle bei Panikattacken. Sie meidet Koffein und Alkohol und isst alle zwei Stunden einen Snack, um möglicher Unterzuckerung vorzubeugen.
Im Internet las sie über angstlösende Pflanzen und nimmt seitdem Ashwagandha, Brahmi, Passionsblumenextrakt und Baldrian ein. Auch Akupunktur hat sie schon probiert und zuletzt die Ayurveda-Therapie Shirodhara (Stirnölguss) kennengelernt.
„Ohne all meine beruhigenden Maßnahmen wäre ich wahrscheinlich schon tot“, erzählt sie sichtlich berührt. Um Ängsten zu entgehen, meidet sie zunehmend angstauslösende Begegnungen, Orte und Veranstaltungen. Ihr Freundeskreis hat sich dadurch um 80% verringert und sie geht nur noch selten aus dem Haus.
Wie erfolgreich ihre diversen Maßnahmen sind, die ja immerhin einen Großteil ihres Tages ausfüllen, frage ich. Kurzfristig helfen sie, langfristig leider gar nicht – im Gegenteil, die Ängste sind in den letzten 12 Monaten trotz aller Bemühungen um Ruhe und Gelassenheit leider gestiegen.
In diesem Moment halte ich einen Moment inne. Dann fasse ich zusammen: Sie haben so viel Zeit, Energie und Geld in die Bekämpfung Ihrer Ängste gesteckt – mit dem Ergebnis, dass sie stärker geworden sind. Wie fühlt sich das an? In diesem Moment bricht Frau H. in Tränen aus.
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Let it be – den Kampf aufgeben
Ängste lassen sich nicht kontrollieren, im Gegenteil. Je mehr wir gegen sie kämpfen, desto stärker werden sie. Besondere Beachtung und Identifikation führt zur Verstärkung.
Die Lösung kann daher nicht darin liegen, ein noch besseres Rezept zu finden, noch disziplinierter zu leben, noch weniger Stress zuzulassen.
Angststörungen sind Verhaltensvermeidungsstörungen, die unser Leben massiv einschränken. Nicht die Angst ist das eigentliche Problem, sondern unsere Reaktionen auf sie.
Frau H. musste so weit kommen, um zu erkennen, dass ihr eingeschlagener Weg aussichtslos ist. Meine Frage, ob sie nun bereit sei, grundsätzlich neue Wege zu gehen, beantwortete sie schluchzend mit Ja.
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Das Therapieziel neu definieren
Unser erster Schritt war die Umformulierung der Wünsche von Frau H. und der Wechsel von emotionalen zu verhaltensorientierten Zielen, um die verloren gegangene Lebensqualität zu steigern.
Wer ist Ihnen im Leben wirklich wichtig? Was liegt Ihnen am Herzen? Welche Qualitäten möchten Sie entwickeln und verwirklichen? Wofür soll Ihr Leben stehen? Woran sollen sich Ihre Liebsten erinnern, wenn Sie eines Tages nicht mehr aufwachen?
Mit diesen Fragen aktivieren wir das appetitive Motivationssystem und wechseln vom „Weg-Von“- in den „Hin-Zu“-Modus. Frau H. kann somit mehr Werteklarheit entwickeln und Ihre täglichen Aktivitäten danach ausrichten. Nicht die Reduktion von Angstsymptomen steht im Vordergrund, sondern die Erfahrung von psychischer Flexibilität.
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Was tun, wenn die Ängste wiederkehren?
Sie werden wiederkehren, soviel ist gewiss. Wir können nicht garantieren, dass unsere Neuausrichtung direkt zu einer Angstlinderung führt.
Was wir Frau H. aber garantieren können, ist, dass sie durch die konsequente Ausrichtung auf ihre Werte und das Einlassen auf den gegenwärtigen Moment ihr Leben zurückgewinnen wird.
Kommen die Ängste zurück, können wir sie wahrnehmen, benennen, normalisieren und in unsere Aktivitäten mitnehmen – wie einen Rucksack, der sich zu Beginn noch sehr schwer anfühlt, aber mit jedem Schritt leichter wird.
Die Ergebnisse der letzten drei Jahrzehnte psychologischer Forschung belegen eindrucksvoll: geben wir den Kampf gegen Ängste auf und lassen sie durch innere Annahme und Akzeptanz zu, verringern sie sich.
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Unser Ziel ist nicht nur, uns gut zu fühlen, sondern ein erlebnisreiches, wertvolles und sinnerfülltes Leben zu führen – Ängste dürfen kommen und gehen, ohne unsere Gedanken, Worte und Taten zu steuern.
Unser Ziel ist auch nicht, frei von jeglichen Ängsten zu werden. Wir helfen unseren Klienten, mit ihren Ängsten freier, gesünder und effektiver umzugehen und nicht, sie von ihren Ängsten zu befreien. Wenn die Zeit reif ist, gehen sie von selbst.
Mein Lieblingssatz trifft diesen Gedanken auf den Punkt:
Sometimes fear doesn’t go away – so you’ll have to do it afraid!